Zeit: „Die tätowierte Stadt”
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Graffiti zerstören das Bild Berlins
Berlin
Vor 35 Jahren hat es angefangen - in New York, mit der Sprühdosenhandschrift eines Fahrradboten, der sich Taki 183 nannte. Überall dort, wohin sein Job ihn führte, hinterließ Taki seine Spuren an den Mauern wie ein Rüde seine Duftmarke. Natürlich hatte es freche Kritzeleien in der Antike, aber auch fromme Kreuze mittelalterlicher Pilger immer schon gegeben, eingekratzt in die Wände und Säulen von Jerusalem oder Rom. Aber die Spraydose hat alles verändert. Sie erlaubt das kunstlose, flächendeckende Signal der eigenen Anwesenheit in der Welt.
Die Graffiti-Mode ist zur weltweiten Dekorationsneurose zumeist 15- bis 20-jähriger Jungen aufgestiegen. Unter englischen Szenenamen (tags für gekritzelte Initialen oder bombs und pieces für komplexere Bilder) verunstalten die meist unlesbaren Zeichen S- und U-Bahn-Züge, Bahnhöfe, Fabrik- und Häusermauern. Die Unsitte hat inzwischen vielen Vierteln Berlins den Anblick einer verwahrlosten Metropole verliehen. Echte Slums wie in Detroit oder Chicago gibt es hier nicht, wohl aber verslumte Außenseiten in den Randbezirken. Es geht nicht ärmlich zu: Eine gute Farbspraydose kostet bis zu 9 Euro, ein zugesprühter S-Bahn-Waggon verschlingt etwa 500 Euro.
Soziologen mögen von jugendlichen Kommunikationsformen aus der Unterschicht sprechen, doch in Wirklichkeit handelt es sich um optisches Geschrei unerzogener Kinder.
Seitdem die Mauer als westliches Sprayer-Paradies verschwunden ist, wendet sich die angeblich fantasievolle, doch zu 99 Prozent garantiert talentlose Schaffenskraft von amtlich geschätzten 15 000 Hauptstadt-Sprayern der eigenen Nachbarschaft zu. Besonders beliebt sind die Schallschutzwände der Bundesbahn und die Häuserfassaden entlang der Gleisstrecken. Die Stadt gibt viele Millionen Euro jährlich für die Beseitigung von Graffiti aus. Das Geld fehlt in den Kitas, Schulen und anderswo.
Strafbar sind nicht unerhebliche Änderungen des Erscheinungsbilds...
Berliner Humor: Noch im Jahre 1998 hatte das Kammergericht der Stadt geurteilt, das Anbringen von Graffiti an einer Häuserwand sei keine Sachbeschädigung und mithin nicht strafbar. Der Eigentümer könne ja die Wand säubern. So bildete sich ein neuer Berufsstand mit entsprechenden Gerätschaften heraus. Vor einem Jahr hat dann der Bundestag ein Gesetz zur Graffiti-Bekämpfung verabschiedet. Paragraph 304 des Strafgesetzbuches verbietet inzwischen die nicht nur unerhebliche Veränderung des Erscheinungsbilds einer fremden Sache. Sichtbare Wirkung zeigt es bisher nicht.
Die Unruhe, die Politiker aller Parteien angesichts dieser Entwicklung erfasst hat, äußert sich in ihren Klagen über Eingriffe in das Eigentumsrecht. Doch es geht nicht nur um Eigentum. Schwerer zu fassen oder gar zu sanktionieren ist die Hässlichkeit der Dosenwerke, mit der offenkundig gelangweilte Jugendliche Verbotsbarrieren im öffentlichen Raum überschreiten.
Dass sich die Sprayer-Kids von Berlin als rebellische Künstler verstehen, die dem Spießer (also allen anderen) die Aussicht verderben, überrascht nicht.
Ihre Selbstdarstellungen im Internet bewegen sich auf dem Klischee-Terrain der Linken von ehedem. Wenn schon alles hässlich ist, so lautet dort ein Argument, dann dürfe man seinen Teil zum ästhetischen Ruin der Städte doch ruhig beitragen: Wer dagegen klage, so die altertümliche Dialektik, legitimiere den Status quo der verbauten Städte. Doch es fehlt die dazugehörige Utopie. Man sprayt, also ist man - mehr nicht.
Eine Untersuchung von Potsdamer Uni-Psychologen, die 300 jugendliche Sprayer befragten, ergab, dass Expertentum und Kompetenz, vor allem aber Erregung bei der Grenzerfahrung ihres verbotenen Tuns, Ruhm innerhalb der Szene und die archaische Lust, irgendjemandem zu schaden, die größten Anreize darstellen. Anders gesagt, die Graffiti stehen für pubertäre Grenzüberschreitungen, wobei der Übergang von der Kindheit in die Welt der Erwachsenen als gezielter Gesetzesbruch daherkommt, mithin einen infantilen Trotz gegen die Gesellschaft mitschleppt, der man per Graffiti mitteilen möchte, dass man angekommen sei.
Die Hilflosigkeit nicht nur Berlins angesichts der allgemeinen Schmiererei hat gleichsam kunsthistorische Gründe. Es scheint für Politiker schwer zu benennen, was an den grellen Wand-Signaturen so stört. Von Keith Haring bis Penck - die Ur-Embleme der Sprayer, Strichmännchen, Phallus und sublimierte Toilettenkritzeleien, gehören längst zur Grammatik moderner Malerei.
Eingebettet in die Analysen der zeitgenössischen Kunsttheorie, sind sie immunisiert gegen alle kleingeistige Etikettierung oder Denunziationen. Und in den seltensten Fällen gelingt es ja auch den nächtlichen Kohorten der Berliner Sprayer, ihrem eigenen Kunstwollen einen angemessenen Ausdruck zu geben. Doch meistens sind ihre Malereien brutale Besatzungsmaßnahmen auf freien Flächen. Ihr ästhetischer Schock ist längst verflogen, ihr Interpretationsangebot ist so begrenzt wie das handwerkliche Vokabular ihrer Urheber. Sie sind störend, weil sie sich exhibitionistisch ins Gesichtsfeld der Menschen drängen. Und sie sind überall.
Was lästige Fahrstuhlmusik für die Ohren ist, bieten Graffiti den Augen
Wer dem Anblick der Graffiti nicht entfliehen kann, bekommt eine Ahnung von der Allgegenwart des Unerwünschten, also von jener totalstaatlichen Propaganda der fünfziger Jahre, die per Lautsprecher auf allen öffentlichen Plätzen der DDR die Bürger unentrinnbar beschallte - und die als TV-Werbespot in Supermärkten wie ein ewiges Hintergrundgeräusch wiedergekehrt ist. Was die nervtötende Fahrstuhlmusik für die Ohren ist, bieten die Graffiti für die Augen: eine unerwünschte Erfahrung von völliger Leere.
Wer in den Graffiti der deutschen Großstädte zumindest im Prinzip Kunstwerke erkennt, der wird zögern, nach dem Staat zu rufen. Doch der ist weiterhin gefordert: Strikte Verkaufsverbote von Spraydosen für Minderjährige wären ein Anfang. Kinder, die in graffiti-zerstörten Nachbarschaften aufwachsen, werden das Hässliche für die Regel halten. Die gesellschaftlichen Folgen solcher Sozialisierung sind noch leichter auszumalen als Graffiti auf den Hauswänden.
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